21. Sept. 2017

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Der Fliegenpilz ist weit mehr als nur das giftige „Männlein im Walde“

Karl Josef Strank

Der Fliegenpilz ist ein häufiger und einer der schönsten Pilze unserer Wälder. Er wird sehr leicht erkannt, weil er auf dem von abgeworfenen Kiefernnadeln braunen Waldboden oder im Grün der Besenheide und Waldbeeren mit seinem roten Hut und den weißen Tupfen wie ein Signal wirkt. Er ist in der Tat in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswerter Pilz.

Seinen Namen verdankt er dem Gebrauch als Fliegengift und Fliegenfänger. Dazu legte man den abgeschnittenen Hut in eine Schale mit gezuckerter Milch. Das lockte die Fliegen an und tötete sie. Genauere Tests haben aber ergeben, dass die Fliegen nur betäubt werden. Denn lässt man sie in Ruhe, erholen sie sich allmählich wieder. Diese angeblich fliegentötende Wirkung ist bereits in den mittelalterlichen Kräuterbüchern beschrieben. Mit keinem Wort wird aber seine psychoaktive Wirkung erwähnt. Diese ist erst vergleichsweise spät in der Neuzeit durch Sibirienreisende und deren Berichte über den dort praktizierten Schamanismus bekannt geworden.

Die Giftwirkung stand im Vordergrund. So berichtet das Vollständige Giftbuch von 1840, das für den Schul- und Privatgebrauch geschrieben wurde, um die Giftpflanzen, Giftminerale und Gifttiere kennen zu lernen und Gesundheit und Leben gegen Vergiftungsgefahren sicher zu stellen: „Menschen, die diesen Schwamm genießen, verfallen in Betäubung und Gliederzittern. In größerer Quantität genossen, bringt er Verlust des Verstandes, Wahnsinn mit Tollheit hervor und den Tod in Raserei.“ Später heißt es dort von vier Soldaten des Russland-Feldzugs Napoleons, die nach dem Genuss von Fliegenpilzen sich wohlauf fühlten und weigerten, ein Brechmittel zu nehmen, dass die Vier, als später die Vergiftungserscheinungen auftraten, „unter heftigen Schmerzen eine Beute des Todes“ wurden. Denn da half nun kein Brechmittel mehr.

Entgegen dieser Darstellung des Fliegenpilzes mit absolut tödlicher Giftwirkung steht seine rituelle Verwendung im sibirischen Schamanismus. Bei den Korjaken gilt er als heilige Pflanze und die Schamanen verspeisen den getrockneten Pilz, um in hellseherische Trance zu verfallen und ihre schamanistischen Heilkräfte zu mobilisieren.

Christian Rätsch nennt in der Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen die Anlässe, zu denen sie das tun. „Wenn sie mit den Seelen der Ahnen kommunizieren oder mit Geistern Kontakt aufnehmen wollen, wenn ein Neugeborenes einen Namen erhalten soll, um in bedrohlichen Situationen einen Ausweg zu finden, um die Zukunft vorherzusehen und in die Vergangenheit zu blicken und um in andere Welten reisen oder fliegen zu können.“

Auch in der germanischen Mythologie spielt der Fliegenpilz eine Rolle. Der Sage nach ist er entstanden, als Wotan, der schamanistische Gott der Ekstase und der Erkenntnis, zur Wintersonnenwende auf seinem Ross mit seinem Gefolge, der Wilden Jagd, über den Himmel reitet. Dort, wo der Geifer seines schnaubenden Rosses auf die Erde fällt, wachsen dann im Herbst – neun Monate später – Fliegenpilze aus dem geschwängerten Boden.

Im Volksmund heißen die Fliegenpilze auch „Rabenbrot“. Raben, die Ratgeber und Botschafter Wotans, sind im germanischen Glauben uralte Schamanen- und Krafttiere. Von den Berserkern, „Bärenhäuter“, dem Wotan geweihte, wildwütende und unerbittliche Krieger, nimmt man an, dass sie in ihren geheimbündlerischen Ritualen den Fliegenpilz verzehrt haben.

Das Gefühl des Fliegens beim Genuss von Fliegenpilz lässt vermuten, dass er neben anderen psychoaktiven Kräutern Bestandteil der Hexensalbe war. Eine weitere Assoziation liegt da ganz nahe. Vielleicht ist der weiß-rote Weihnachtsmann, der mit seinem Rentiergespann durch die Lüfte fliegt, nichts anderes als ein netter, menschenfreundlicher Fliegenpilz oder ein Fliegenpilzschamane. Im bekannten Lied vom „Männlein im Walde“ ist nicht zwingend nur die Hagebutte die richtige Lösung. Einiges spricht auch dafür, dass es ein Fliegenpilz ist. Heute hat er das Image des Giftpilzes abgestreift und gilt eher – richtig dosiert – als das Bewusstsein erweiternde, psychedelische Droge.

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zuletzt bearbeitet am 27.X.2017