20. Juli 2017

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Sieht aus wie eine Schlange, ist aber keine: Die Blindschleiche ist eine Echse

Karl Josef Strank

Die Blindschleiche ist ein merkwürdiges Geschöpf. Sie schleicht oder schlängelt sich zwar über den Boden wie eine Schlange, ist aber keine. Und blind, wie der Name suggeriert, ist sie auch nicht. Sie ist leicht zu fangen. Ist der Zugriff aber zu hastig oder zu fest, kann es passieren, dass sie in zwei Teile zerbricht. Das überrascht und verwirrt den Fänger. Das längere vordere Ende versucht, sich schnell davon zu schlängeln. In der Hand verbleibt das kürzere, heftig zappelnde hintere Ende.

Dieser Trick funktioniert auch bei den natürlichen Feinden, denn in Gefahr geraten, entkommen sie auf diese Art häufig ihren Verfolgern. Soll-Bruchstellen im hinteren Ende des Körpers ermöglichen es, den Schwanz abzuwerfen. Dieser wächst wieder nach, allerdings kürzer und als runder Stumpf. Unangenehm ist, wenn nach gelungenem Fang, die Tiere in Panik ihre Kloake entleeren, ein Verhalten, das man auch von Schlangen kennt.

Die auffallende Fähigkeit, nicht den Kopf, aber den Schwanz zu verlieren, hat der Blindschleiche ihren wissenschaftlichen Namen Anguis fragilis eingetragen: zerbrechliche Schlange.

Schlangenähnlich ist allerdings nur die äußere Erscheinung. Beim genaueren Hinsehen bemerkt man, dass Blindschleichen bewegliche verschließbare Augenlieder haben und ihr Schlängeln nicht so elegant wie bei den Schlangen, sondern eher langsam, etwas unbeholfen und steif wirkt, weil sie keine mit Muskelkraft bewegliche Schuppen auf der Bauchseite besitzen.

Beim Züngeln müssen sie ihr Maul leicht öffnen, Schlangen haben dafür eine Lücke in der Oberlippe. Ein Blick ins Innere des Körpers lässt rudimentäre Knochen eines Schulter- und Beckengürtels erkennen. Die heute beinlosen Schleichen haben sich wohl aus vierbeinigen Vorfahren entwickelt. Das Bündel dieser Merkmale lässt schließen, dass die Blindschleiche zu den Echsen gehört.

Bleibt noch zu klären, wie es zum Namen Blindschleiche gekommen ist. Der Glaube, sie sei blind, ist auch heute noch anzutreffen ist aber falsch. Das althochdeutsche Wort „Plintslicho“, was so viel bedeutet wie „blendender Schleicher“ und auf den glänzenden, sich schlängelnden Körper des Tieres Bezug nimmt, erklärt diesen Namen. Noch heute werden in der Mineralogie glänzende Kristalloberflächen als „Blenden“ oder „Plinten“ bezeichnet. Blindschleichen besiedeln Wälder, Waldlichtungen, Wiesen, Gärten, Parkanlagen und Bachufer. Die wehrlosen Schleichen – sie können nicht einmal richtig beißen – setzen auf Tarnung und führen ein Leben im Verborgenen. Sie benötigen daher dichte Vegetation, um sich zu verstecken. Sie wühlen sich in die Erde und verbringen die meiste Zeit unter Steinen und im dichten Unterholz. In den Gärten sind sie unter Holzbrettern, Folien und anderen schützenden Materialien – gelegentlich auch im Komposthaufen – zu finden.

An heißen Tagen wärmen sie sich in der Sonne auf. Nach Gewittern gehen sie auf die Jagd – normalerweise in den frühen Morgenstunden und in der Abenddämmerung. Züngelnd nehmen sie die Beute wahr und schleichen sich an. Am liebsten fressen sie Regenwürmer, Nacktschnecken und Raupen. Sie verschlingen die Opfer im Ganzen, was bei einem langen Regenwurm eine halbe Stunde dauern kann. Als Schneckenvertilger im Garten sind sie überaus nützlich.

Sehr groß ist die Zahl ihrer Fressfeinde. Igel, Dachs, Fuchs, Marder, Storch, Rabe und einige Greifvögel stellen ihnen nach, ebenso wie Hunde, Katzen und selbst Hühner. Geraten sie zufällig in einen Hühnerkäfig, haben sie keine große Überlebenschance.

Nach der Überwinterung in Erdlöchern paaren sich die Blindschleichen im Mai bis Juni. Die Männchen veranstalten Ringkämpfe um die Gunst der Weibchen. Nach einer Tragezeit von elf bis 14 Wochen gebären die Weibchen acht bis zwölf Jungtiere, die voll entwickelt sind und unmittelbar nach der Geburt die Eihülle abstreifen. In Gefangenschaft können Blindschleichen mehr als 50 Jahre alt werden. In freier Wildbahn erreichen sie das nie, was vor allem auf den Verlust ihrer Lebensräume infolge intensiver Land- und Forstwirtschaft und den Gebrauch von Pestiziden und Schneckengiften zurückzuführen ist.

 

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zuletzt bearbeitet am 23.VII.2017