19.Sept.2013

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Das Glaskraut ist ein echtes Mauerblümchen. Die Römer schleppten es mit.

Joachim Schmitz

Der Herbst ist die Zeit der Weinfeste an Ahr, Mittelrhein und Mosel. Dann wird auch gerne die Weinromantik besungen. Aber so romantisch ist der Weinanbau schon lange nicht mehr – wenn er es denn je wirklich gewesen ist. Wie in der übrigen Landwirtschaft haben auch hier Technisierung und Industrialisierung Einzug gehalten. Analog zu den Ackerwildkräutern sind auch die typischen begleitenden Wildkräuter in Weinbergen sehr selten geworden.

Besonders gefährdet sind die charakteristischen Weinbergsmauern, die steile Hänge in Terrassen gliedern und dadurch erst den Weinanbau möglich machten. Wo das Gelände es zuließ, wurden im Rahmen der Flurbereinigung große Flächen zusammengefasst, die nur noch unten von einer hohen Betonwand gestützt werden und jetzt leichter maschinell bearbeitet werden können. Das wurde häufig an den Unterläufen von Ahr und Mosel gemacht. In kleineren Parzellen wurde der Weinanbau oft ganz aufgegeben, so vielfach am Mittelrhein.

Weinbergsmauern sind für ursprüngliche Felsbewohner wichtige Ersatzbiotope – zum Beispiel für die Mauereidechse. Hier ist auch ein Rückzugsgebiet für viele wärmeliebende Insekten. Typische Pflanzen sind die Weiße Fetthenne (Sedum album) oder der Schild-Ampfer (Rumex scutatus).

Für das Mauer-Glaskraut (Parietaria judaica) sind Weinbergsmauern dagegen der primäre Standort. Im Gegensatz zu den oben genannten Arten können die Mauern sogar verfugt sein. Winzige Ritzen reichen zum Leben aus.

Die Art stammt aus dem Mittelmeerraum und ist klimatisch streng an die Weinanbaugebiete gebunden. Man vermutet deshalb, dass sie von den Römern unbeabsichtigt mitgeschleppt wurde, als diese den Weinanbau nach Mitteleuropa brachten. Das Glaskraut ist übrigens eines der wenigen heimischen Brennnesselgewächse. Die Familie ist in den Tropen mit mehreren tausend Arten vertreten; das bekannte „Bubiköpfchen“ gehört zum Beispiel auch dazu. Wie bei allen Brennnesselgewächsen sind die Blüten unscheinbar. Der Name Glaskraut bezieht sich wohl auf die glänzenden Blätter.

 

Glaskraut. Foto: J. Schmitz

Kulturfolger

Das Glaskraut ist ein reiner Kulturfolger und ein frühes Beispiel für ein heute sehr viel häufigeres Phänomen: Der Mensch schafft Biotope, die es vorher nicht gab und für die keine heimische Pflanze optimal angepasst ist. Eine eingeschleppte Art ist in diesem Biotop viel konkurrenzstärker und kann sich sofort durchsetzen. Bezeichnenderweise sind auch alle typischen Begleiter nicht heimisch sondern ausgebüxte Zierpflanzen. Dazu zählen Goldlack (Erysimum cheiri), Löwenmäulchen (Antirrhinum majus) – immer mit tiefroten Blüten, was der Wildform noch relativ nahe zu stehen scheint – und Spornblume (Centranthus ruber). Alle diese Arten zeigen also an, dass an dieser Stelle Weinanbau klimatisch möglich ist, auch wenn das heute nicht (mehr) praktiziert wird oder die Mauern zu anderen Zwecken errichtet wurden. Von Bonn ab südlich sind die Orte oft zum Rheinufer mit großen Mauern abgesichert, in deren Ritzen das Mauer-Glaskraut massenhaft steckt. Mauer-Glaskraut gibt es übrigens auch an mehreren Stellen in der Aachener Innenstadt.

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zuletzt bearbeitet am 6.X.2013